Systemische Fragetechniken
Was bring ich mit ins Gespräch
Coaching besteht meiner Meinung nach aus zwei grundlegenden Dingen. Das eine ist die Grundhaltung, die ich mit in das Gespräch bringe - also wie ich auftrete. Das kann zum Beispiel sein, dass ich grundsätzliche optimistische bin oder die Grundhaltung eines Forschenden habe, der dich komplett verstehen will. Aber das Thema Grundhaltung soll hier nur am Rand erwähnt sein.
Vielmehr geht es mir um den zweiten Block, den ich mit in das Gespräch einbringen kann …Methoden. Die Auswahl ist riesig und für verschiedene Situationen kann ich mir die passenden rauspicken. Wenn ich aber zum Beispiel “Forscher” bin, dann muss ich eines viel tun und das ist fragen!
Fragetechniken im systemischen Coaching
*Wer? Wie? Was? …” und “Wer nicht fragt bleibt dumm” schallt es noch aus meiner Kindheit. Da ist einiges Wahres dran. Die Fragen, die im Coaching gestellt werden können, sind etwas ausgefeilter und können dich aber dabei unterstützen, deine Herausforderung noch einmal von einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Ich möchte dir sechs Fragekategorien näher bringen - es gibt noch deutlich mehr, aber dann wird der Beitrag so lang, dass du am Ende vergessen hast, was du am Anfang gelesen hast. Und das ist ja auch nicht mein Ziel.
Zirkuläre Fragen
Bei dieser Frageart geht es darum, dass du dich ganz bewusst in die Perspektive einer anderen Person begibst. Du denkst darüber nach, was Ihr Kontext, Ihre Herausforderungen, Bedürfnisse und Wünsche sind und betrachtest deine eigenen Herausforderungen unter diese Blickwinkel.
“Was würde A in dieser Situation tun?”
“Was glaubst du, wie B dieses Problem sieht?”
“Was meinst du, wie würde C reagieren?”
Stell dir folgende Situation vor: Eine Mitarbeitende Person eines Unternehmens soll 8:00 Uhr morgens am Arbeitsplatz sein. Sie erscheint jedoch immer erst 08:05 Uhr. Die Führungskraft ist ungehalten darüber und es entsteht ein Konflikt. (Ich lasse hier bewusst außen vor, dass der Mitarbeitende eine vertragliche definierten Arbeitsbeginn haben könnte)
Die Perspektive der Führungskraft könnte sein: Meine Mitarbeitenden müssen pünktlich am Arbeitsplatz sein und mit der Arbeit beginnen.
Die Perspektive der Mitarbeitenden Person könnte sein: Ich muss mein Kind in die Kita bringen und bin auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Um 5 Minuten eher am Arbeitsplatz zu sein, müsste ich eine Stunde eher starten.
Betrachtet man beide Perspektiven isoliert, wird man schnell feststellen, dass es einen Konflikt gibt, den nur die Mitarbeitende Person lösen kann, indem sie in den sauren Apfel beißt und früher aufsteht.
Wenn die Führungskraft die Situation jedoch unter dem Blickwinkel der Mitarbeitenden Person betrachtet, könnte sie noch andere Lösungen anbieten
Gleitzeit
ein späterer Schichtbeginn
Jobrad
….
Der entstehende Konflikt kann also durch einen leichten Wechsel der Perspektive neu bewertet und in beiderseitigem Interesse gelöst werden.
Hypothetische Fragen
Wenn wir über unsere Herausforderungen nachdenken, dann wird es immer wieder Faktoren geben, die uns limitieren. Wir stehen vor einem Problem, dass uns den Blick auf die Schritte, die dahinter liegen, versperrt und wir denken gar nicht erst weiter.
“Ich brauche mehr Geld, sonst kann ich nicht weiter machen”
*Wenn ich die Zeit hätte, könnte ich Sport machen, aber ich hab ja keine”
“Mir fehlt eine Ausbildung…”
Was dadurch passiert ist, dass du im Problemodus hängen bleibst und nicht über Lösungen nachdenkst. Mit hypothetischen Fragen parken wir das Problem erstmal zur Seite und schauen hinter den Vorhang.
“Angenommen, du hättest das Geld schon, was wären deine nächsten Schritte?”
"Wenn du 30 Minuten mehr hättest, welchen Sport würdest du gerne machen?”
“Wenn du die Ausbildung hättest, wo würdest du dich dann bewerben?”
Dadurch passieren gleich mehrere Dinge. Du lässt dich nicht von dem Problem lähmen und hörst auf, bevor du richtig angefangen hast. Außerdem kommen vielleicht so Themen ans Tageslicht, die du vielleicht schon lösen kannst, um deinem Ziel näher zu kommen. (Vielleicht kannst du schon Sportkleidung beschaffen oder eine Liste von möglichen Arbeitgeber erstellen). Und du findest vielleicht neue Motivation, das eigentliche Problem zu lösen. Wenn du ein klares Ziel hast und weißt, warum du etwas tun musst, fällt es dir leichter, Probleme anzugehen, die dir vielleicht zunächst unangenehm sind.
Wunderfragen
Eine besondere Form der hypothetischen Frage ist die Wunderfrage. Hier darfst du deinen Gedanken und Fantasien freien Lauf lassen.
“Stell dir vor, du wachst morgen auf und dein Problem ist auf magische Art und Weise verschwunden. Woran merkst du, dass etwas anders ist? Woran merkt es dein Partner, deine Freunde, deine Kollegen? Woran noch?”
“Wenn dein tiefster Wunsch in Erfüllung gegangen wäre, was wäre alles passiert, damit er Realität geworden ist?”
Was du tust, wenn du Fragen dieser Art beantwortest, ist, zunächst alle Probleme beiseite zu legen. Du kannst dir die Situation erträumen und dir ein Bild malen, wo alles deinen Wünschen entspricht. Vielleicht ergibt sich daraus für dich ein möglicher Weg, dieses Ziel tatsächlich zu erreichen. Oder du erkennst, was dich heute in deinem Leben stört und woran du arbeiten solltest.
Skalierungsfragen
Etwas rationaler sind dagegen die Skalierungsfragen. Ihr Ziel ist es, deine Situation und vor allem auch Bewegung “messbar” zu machen. Der Gedanke dabei ist, “Wo befindest du dich auf einer Skala aktuell und was müsste passieren um eine Schritt nach oben oder unter zu wandern”
“Auf einer Skala von 0 bis 10, was würdest du sagen, wie glücklich bist du?”
“Auf einer Skala von 1 bis 5, wie zufrieden bist du mit deiner Arbeitsumgebung?”
“Auf einer Skala von 0 bis 100 ist es wahrscheinlich, dass du mit deinen Kollegen etwas nach der Arbeit unternehmen möchtest?"
Wenn du über die Situation nachdenkst und das ganze mit Zahlen versiehst, verschaffst du dir einen strukturierten Überblick. Um die Frage zu beantworten, musst du dir natürlich selbst erstmal klar werden, was das untere Ende der Skala und was das obere Ende bedeutet. Und wo du aktuell stehst.
“Du hast gesagt, du bist aktuell 6 von 10 glücklich. Was müsste denn passieren, dass du auf eine 7 kommst? Oder auf eine 5 runter fällst?”
“Deine Arbeitsumgebung ist nur eine 2 von 5. Wie würde die 3 denn aussehen?”
Die Antwort auf so eine Frage ist gar nicht mal so einfach. Die Nuancen zu bestimmen, die zwischen den einzelnen Schritten liegen, könnte für dich Themen sein, an denen du arbeiten möchtest. Es können aber auch Grenzen klar werden, die du für dich einhalten möchtest. Was du auch tun kannst ist, die gleiche Frage zu unterschiedlichen Zeiten zu beantworten und die Antworten zu vergleichen.
“Letzte Woche war ich noch eine 6 von 10 auf der Glücklich-Skala. Heute fühle ich mich wie eine 8 von 10. Was hat sich geändert?”
So kannst du unter Umständen Momente identifizieren, die auf dich eine Wirkung hatten, die dir im ersten Schritt gar nicht so bewusst war.
Ressourcenorientierte Fragen
Bei dieser Art von Frage geht es darum zu erkunden, was du bereits für “Handwerkszeug” und Unterstützung hast, um deine Herausforderung zu lösen, was dir aber vielleicht aktuell nicht bewusst ist.
Dies Fragen könnten sich zum Beispiel drehen um:
Menschen die dich unterstützen könnten
Problemlösetechniken die du auch hier anwenden kannst
Informationen und Informationsbeschaffungsquellen die dich weiterbringen
etc.
Der Sinn dahinter ist - wie bei allen Techniken - dir etwas bewusst zu machen, was dir, während du auf das Problem fokussiert bist, nicht einfällt. Denn Herausforderungen können durchaus überwältigend aussehen und das Gefühl in einem auslösen “Ich bin damit ganz allein und keiner kann mir helfen”. Vermutlich bist du aber mit deinem Problem nicht allein und es fehlt dir nur der Blick wo du noch Unterstützung bekommen könntest. Die Fragen die in so einer Situation gestellt werden könnten, könnten sein:
“Wer könnte dich dabei unterstützen?”
“Welche öffentlichen Anlaufstellen können weiterhelfen?”
“Was hast du in der Vergangenheit in einer vergleichbaren Situation getan?”
“Wo könntest du dich über Lösungen für das Problem informieren”
Wenn du Antworten auf diese Fragen suchst, kommst du weg vom Fokus auf ein Problem und hin zu einem Fokus auf eine Lösung.
Paradoxe Fragen
Paradoxe Fragen sind eine spannende und komplett entgegengesetzte Fragetechnik, um aus dem Problemfokus auszusteigen. Paradox bedeutet widersprüchlich - die Frage, die wir stellen, hat zwar am Ende das Ziel, eine neue Lösung zu finden, aber sie tut dies, indem wir uns auf das Problem konzentrieren.
Der Gedanke dabei ist: “Wenn ich weiß wie ich eine Situation schlimmer mache, weiß ich vermutlich auch, wie ich sie besser mache”. Fragen dieser Art könnten lauten
“Was müsstest du tun, damit dich alle deine Freunde verlassen?”
“Wie würdest du es schaffen, dass kein Kunde mehr dein Produkt kauft?”
“Was könntest du tun, um den Konflikt noch viel schlimmer zu eskalieren?”
Bestimmt fallen dir sofort Antworten auf diese Fragen ein. Sie spielen ja auch mit deinen Befürchtungen. Aber sie zeigen dir auch klar auf, was du nicht tun solltest - denn du willst das Problem ja nicht verschlimmern. Eine Antwort auf eine paradoxe Frage kann auch so absurd sein, dass du vielleicht lachen musst und du dich sogar ein bisschen schämst ("Hahaha, das kann ich doch nicht laut sagen…!”).
Was aber in jedem Fall passiert ist, dass du dich bewegt hast. Du bist aus der Starre im Angesicht deiner Herausforderung einen kleinen Schritt in eine Richtung gegangen und kannst nun wieder Kraft sammeln und dich auf eine Lösung fokussieren.
Abschluss
Du siehst es gibt eine Vielzahl von verschiedenen Arten eine Frage zu stellen. Möglicherweise nutzt du einige davon auch schon ganz unterbewusst im Alltag. Ich hoffe, dass du einen Impuls bekommen hast, in einer Situation mit einer Frage dieser Art voran zu kommen - entweder weil du sie dir selber stellst oder in einer herausfordernden Situation mit deinem Gegenüber.
In jedem Fall, danke für deine Aufmerksamkeit.
Bleib gesund!