Das innere Kind
Wie bereits hier angedeutet, möchte ich dir einige Konzepte und Methoden genauer vorstellen, die mit dem Konzept der inneren Anteile verwandt sind. Als erstes soll es dabei um das innere Kind gehen. Aber auch hier wieder der Disclaimer - es handelt sich um ein Modell, also eine vereinfachte bildhafte Darstellung der Realität, die nicht perfekt ist und nicht jeden Sonderfall erfassen kann.
Entwicklung
Das Modell wurde hauptsächlich von John Bradshaw, Erika Chopich und Margeret Paul entwickelt und verbreitet. Die Grundannahme ist die in der Psychologie verbreitete Erkenntnis, dass die frühen Jahre eines Menschen massiv zu dessen Entwicklung beitragen. So durchlebt jedes Kind herausfordernde Situationen, die es mit seinen primären Bezugspersonen oder alleine lösen muss. Dabei wird das Kind mit Konflikten konfrontiert, in denen die eigenen Bedürfnisse ggf. mit den Bedürfnissen anderer in Konkurrenz stehen. Je nachdem, wie diese Situationen ausgehen, entwickelt das Kind Lösungsstrategien und Glaubenssätze für sich selbst. Diese Erfahrungen verankern sich im Kind und haben einen großen Einfluss auf dessen Entwicklung und darauf, wie zukünftige Herausforderungen gelöst werden.
Das heißt, das “innere Kind” ist der Anteil in dir, der sich, bewusst oder unterbewusst, mit diesen Glaubenssätzen identifiziert und dein Handeln im Heute beeinflusst.
Die zwei Seiten des inneren Kindes
Wie das innere Kind dich in einer Situation im Hier und Jetzt beeinflussen kann, kann fördernd oder hemmend sein. Die Psychologin Stephanie Stahl hat zu diesem Thema die Begriffe “Sonnenkind” und “Schattenkind” geprägt. Was diese Teile ausmacht, hängt wiederum von den jeweiligen Glaubenssätzen und den gemachten Erfahrungen ab.
Das Sonnenkind
Fangen wir mit dem “positiven” Teil an. Das Sonnenkind hat Erfahrungen gemacht, in denen es aus Herausforderungen bestätigt, gestärkt oder geliebt hervorgekommen ist. Das könnte zum Beispiel das Kind sein, das vom Klettergerüst gefallen ist und die Eltern es ermutigt haben, es noch einmal zu probieren. Oder das Kind erfolgreich Fahrrad fahren gelernt hat. Das Kind mit dem geschimpft wurde, weil es eine Regel verletzt hat, aber das trotzdem in dem Arm genommen wurde. Das Kind, das sorglos lachen durfte und die Welt um sich erkunden durfte.
Es sind also Situationen, in denen das Kind entweder seinen natürlichen Drängen und Bedürfnissen als Kind nachgehen konnte oder das Kind, was auf wertschätzende und aufmunternde Art gelernt hat, mit Rückschlägen umzugehen. Glaubenssätze die sich daraus ergeben haben könnten sind:
Ich bin geliebt
Ich bin wertvoll
Ich kann das schaffen
Ich bin sicher
Ist dieser Teil deines inneren Kindes stark ausgeprägt, wirst du als Erwachsener vermutlich weniger Probleme mit Konflikten oder Herausforderungen haben. Du hast gelernt, dass es okay ist zu scheitern und es noch einmal zu versuchen. Du hast außerdem gelernt, dir selbst zu vertrauen und deinem eigenen Kompass zu folgen.
Das Schattenkind
Dieser Anteil dagegen ist derjenige, der nicht so viel Glück hatte und in diesen schwierigen Situationen der Kindheit eher negative Erfahrungen gemacht hat. Das könnte das Kind sein, das Ärger bekommen hat, weil es etwas falsch gemacht hat und dann auf das Zimmer verbannt wurde. Das Kind, das für schlechte Schulnote mit harschen Worten bestraft wurde. Das Kind, das überbehütet war und nie alleine die Welt erkunden konnte. Das Kind, dessen Bedürfnisse hinten anstellen mussten zugunsten der Eltern, Geschwister, anderer Kinder …. Das Kind das psychischer oder physischer Gewalt im Haushalt ausgesetzt war - mittelbar oder unmittelbar. Daraus haben sich vielleicht Glaubenssätze entwickelt wie:
Ich kann das nicht
Ich bin nichts wert
Ich werde nicht/ nur unter Bedingungen geliebt
Ich schaffe das nicht allein
Ist dieser Teil des inneren Kindes stark ausgeprägt, wirst du als Erwachsener vermutlich eher Probleme mit Konflikten oder Herausforderungen haben. Du hast gelernt, dass deine Bedürfnisse und Gedanken weniger wichtig sind, als die deines Umfeldes. Du ziehst dich vielleicht aus Konflikten zurück oder meidest sie komplett. Anstatt auf deine eigenen Wertvorstellungen oder Meinung zu hören, suchst du Bestätigung bei anderen. Du hast dir vielleicht auch Schutzstrategien zurechtgelegt, die dir in der Situation zwar dienlich sind, dich aber im allgemeinen eher zurückhalten oder belasten können.
Du und dein inneres Kind
Als ersten Gedanken zum Umgang mit dem inneren Kind möchte ich dich darum bitten, nicht in den Modus zu verfallen, dir selbst zu sagen “Das Sonnenkind ist gut, davon will ich mehr und das Schattenkind ist schlecht, das soll verschwinden”. Vielmehr möchte ich dir die folgende Perspektive anbieten.
Beide Anteile haben die Aufgabe erfüllt, dich vor (weiteren) negativen Erfahrungen zu schützen. Beide Anteile sind ein Teil von dir und haben einen Platz in deinem Alltag. Vielleicht sind dir beim Lesen der Beispiele auch Erinnerungen hoch gekommen - gib dir einen Augenblick zu Realisieren und zu Akzeptieren, dass es diese Herausforderungen gab und dass du als Kind dein Bestes getan hast, damit umzugehen.
Als zweiten Gedanken möchte ich dir mitgeben, dass die Glaubenssätze und Schutzstrategien, die sich in dir entwickelt haben zwar einen Zweck erfüllen, sie aber nicht in Stein gemeißelt sind. Du kannst sie auf ihre Gültigkeit überprüfen und sie an dein heutiges Leben anpassen. Gerne unterstütze ich dich dabei!
Umgang mit dem inneren Kind
Um aus diesem Modell jetzt eine Methode zu machen, gibt es verschiedene Schritte, die du durchlaufen kannst. Der erste Schritt ist zu erkennen, was dein inneres Kind dir eigentlich genau sagen will. Dafür musst du dich achtsam in herausfordernden Situation einmal beobachten und kannst dir folgende Fragen stellen:
Was fühle ich gerade?
Welches Bedürfnis habe ich gerade? Wird es erfüllt oder wird es zurückgestellt?
Was glaube ich gerade über mich?
Schreib dir die Antworten auf diese Fragen und weitere Gedanken auf. Sammle das für verschiedene Situationen. So bekommst du einen Überblick darüber, was Bedürfnisse, Gefühle und Glaubenssätze sind.
Veranschaulichung der Themen
Hast du ein paar Beobachtungen gemacht, kannst du nun die einzelnen Punkte genauer betrachten. Folgende Fragen könntest du dir stellen:
Was sind wiederkehrende Gefühle?
Welche dieser Gefühle nehme ich als hilfreich wahr? Welche als störend?
Welche Bedürfnisse werden befriedigt? Welche vernachlässigt?
Gibt es Glaubenssätze, die mir gefallen? Gibt es welche, die mir nicht gefallen?
Das liest sich für dich vielleicht banal, aber mal Hand aufs Herz - wie häufig nimmst du dir wirklich Zeit, solche Dinge einmal aufzuschreiben und bewusst zu durchdenken? Mach dir vielleicht zu den Gefühlen, Bedürfnissen und Glaubenssätzen eine Mindmap. Nutze Farben, unterstreiche Dinge oder mach dir Pfeile, wenn dir Verbindungen zwischen den Themen klar werden. Eine Visualisierung kann nicht schaden.
Arbeit mit den einzelnen Themenkomplexen
Um mit den jeweiligen Themen weiter zu arbeiten, brauchst du vor allem eines - Zeit! Stellst du zum Beispiel fest, es gibt immer wiederkehrende Gefühle, die dich hemmen, dann kannst du diese nicht von jetzt auf gleich abstellen. Vielmehr wirst du damit Zeit damit zu verbringen zu ergründen, was die Gefühle auslöst, was in dir vorgeht, wie du das Thema siehst und was du ändern kannst. Es ist ein Prozess des Versuchens und des konstanten Anpassens.
Glaubenssätze kannst du zum Beispiel dadurch auflösen, indem du sie mit realen Erfahrungen überprüfst und stückweise umformulierst. Du könntest zum Beispiel den Glaubenssatz “Ich schaffe das nicht” haben. Eine Überprüfung könnte folgende Schritte durchlaufen:
Gab es vergleichbare Situationen, die du allein geschafft hast?
Gab es vergleichbare Situationen, die du mit Unterstützung geschafft hast?
Als du eine ähnliche Situation geschafft hast, was hast du da gemacht?
Wie hast du dich dabei gefühlt?
Welcher Teil ist dir leicht gefallen? Welcher ist schwer?
Mit jeder Frage könntest du den Glaubenssatz umformulieren, dass er mehr der Realität entspricht. Er könnte dann vielleicht so lauten: “Ich kann das schaffen, brauche aber manchmal etwas mehr Zeit als meine Kollegen.” oder “Ich kann fast alle Vorgänge alleine lösen". Nur bei XY brauche ich Unterstützung meiner Kollegen” oder im besten Fall “Ich schaffe das!”.
Die Überprüfung von Glaubenssätzen ist eine sehr hilfreiche Methode, einige Barrieren abzubauen. Gerne unterstütze ich dich hierbei!
“Heilung” des inneren Kindes
Um dein verletztes inneres Kind zu heilen, kannst du die eben erwähnten Überprüfungen und Umformulierungen nutzen. Es gibt auch noch weitere Methoden, die dir helfen könnten. Das könnten zum Beispiel Imaginationsübungen sein oder aber auch Brief an dich selbst..
Imaginationsübungen als Heilung des Kindes
Mach es dir irgendwo bequem, nimm dir einen Tee und schließ die Augen. Denk an eine konkrete Situation, in der sich ein negativer Glaubenssatz geformt hat. Stell dir dein kindliches Ich vor deinem inneren Auge vor. Werde die bewusst, welche Gefühle verletzt, welche Bedürfnisse unerfüllt und welche unschönen Gedanken gedacht werden. Erinnere dich daran, was du als Kind gebraucht hättest, um mit dieser Situation besser umzugehen. Und dann stell dir vor, dass du dich in deinem Erwachsenen-Ich sich zu deinem inneren Kind setzt und diese Dinge sagst. Gib deinem inneren Kind die Versicherung, die es braucht, dass alles gut wird und Ihr diese Situation überstehen werdet. Stell dir vielleicht auch vor, wie du es in den Arm nimmst und es tröstest.
Vielleicht setzt in dir jetzt ein bisschen Entspannung ein und du merkst, dass sich dein inneres Kind beruhigt. Vielleicht wird dir aber auch noch ein weiterer Gedanke oder ein weiteres Gefühl bewusst, an dem du arbeiten kannst. In jedem Fall kannst du für dich da sein, sowohl in deiner Vorstellung als auch in der realen Welt.
Der Brief an dich selbst
Vielleicht ist das Thema Imagination für dich zu abstrakt und du kannst dir das nicht so richtig vorstellen, dein inneres Kind in den Arm zu nehmen und das ist okay. Aber vielleicht wünscht du dir dennoch, dir manche Dinge zu sagen. Dann schreib dir doch einen Brief.
Stell dir wieder eine Situation vor und denk daran, was du als Kind gebraucht hättest. Und dann schreib die Antworten in einen Brief. Du könntest Ratschläge aufschreiben, die du deinem inneren Kind geben würdest. Es könnten Bestätigungen sein, dass deine Gefühle und Gedanken, die du hattest, gerechtfertigt waren. Du könntest dir versichern, dass alles gut wird. Du kannst von den positiven Dingen berichten, die dir widerfahren werden. Alles was dir in den Sinn kommt, kann in diesen Brief. Wichtig ist aber, dass du ihn nicht nur in deinen Gedanken formulierst, sondern wirklich aufschreibst. Richtig gut wäre es, wenn du dir die Zeit nimmst, das ganze nicht nur am PC, sondern auch auf Papier zu schreiben.
Als Abwandlung kannst du diese Methode auch nutzen, um Briefe an Personen zu schreiben, die dein inneres Kind verletzt haben. Schreib auf, was du gebraucht hättest und was die Situation mit dir gemacht hat. Dabei ist es auch im ersten Schritt gar nicht so wichtig, ob die Person den Brief jemals lesen wird. Es geht darum, dass du es gesagt hast. Probiere es gerne einmal.
Abschluss
Ich hoffe du kannst mit diesem Modell etwas anfangen! Vielleicht nutzt du die Gelegenheit, deine Glaubenssätze und Schutzstrategien aufzuschreiben und umzuformulieren. Vielleicht hast du jetzt aber auch einfach etwas mehr Bewusstsein dafür, wie deine Kindheit dich noch heute beeinflussen kann. Oder vielleicht hast du für dein Gegenüber etwas mehr Verständnis, weil dir bewusst geworden ist, wie auch diese Person durch Glaubenssätze gesteuert sein könnte.
In jedem Fall danke ich dir wie immer für deine Zeit und deine Aufmerksamkeit!
In diesem Sinne!
Bleib gesund!